Projektleitung: Dr. Thomas Hoffmann
Das Projekt untersucht anhand umfangreicher Quellen zur Geschichte der Rehabilitation von Kopfschussverletzten während des Ersten Weltkriegs die Geschichte der sogenannten Übungsschulen für hirnverletzte Soldaten, die ab 1915 in Österreich-Ungarn und im Deutschen Kaiserreich an verschiedenen Orten eingerichtet worden sind. Diese Schulen befanden sich oft in den Räumlichkeiten ehemaliger Hilfsschulen. Ihre Geschichte ist in der pädagogischen Historiographie bisher weitgehend übergangen worden. Dabei waren dort neben Ärzten, Psychologen und Arbeitstherapeuten vornehmlich Heil- und Hilfsschulpädagogen tätig, um durch systematische Übung und Unterrichtung der Patienten deren Hirnfunktionen und kognitive Leistungen wiederherzustellen oder zumindest zu verbessern.
Aus heutiger Sicht erscheint zweierlei an dieser Geschichte erklärungsbedürftig: (1) Zum einen die Frage, warum zu Beginn des Ersten Weltkriegs – über alle Fachgrenzen hinweg – ein recht einheitlicher Konsens darüber bestand, dass die Rehabilitation der Kopfschussverletzten in den Zuständigkeitsbereich der Hilfsschulpädagogik fiel? (2) Zum anderen die Frage, warum nach Kriegsende die Geschichte der Übungsschulen als Teil der Geschichte der Hilfsschulpädagogik (und damit auch der heutigen Heil- und Sonderpädagogik) so schnell in Vergessenheit geraten konnte?
Die Beantwortung dieser Fragen erfordert die Rekonstruktion jener diskursiven Verschiebungen, die dazu führten, dass das Hilfsschulkind und der hirnverletzte Soldat für eine begrenzte Zeit denselben Raum von Aussagen und pädagogisch-therapeutischen Praktiken teilen konnten sowie jener weiteren Verschiebungen, die im Anschluss daran ihre temporäre Vereinigung wieder rückgängig machten und die spätere Erinnerung daran auslöschten. Aufschlussreich für eine solche Untersuchung erscheinen dabei nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die vielfältigen Unterschiede zwischen der diskursiven Konstruktion des Hilfsschulkindes und des hirnverletzten Soldaten sowie deren praktische Konsequenzen. Zugleich ist die Frage interessant, mit welchem professionellen Selbstverständnis die Hilfsschullehrer an den Übungsschulen für Kopfschussverletzte angesichts der veränderten Zielgruppe an ihre neuen Aufgaben herangingen und welche Beschreibungs- und Beobachtungskategorien dabei zum Einsatz kamen?
Hoffmann, T. (2021): Übungsschulen für "Gehirnkrüppel": Diagnostik, Therapie und heilpädagogische Behandlung hirnverletzter Soldaten 1914–1918. In: S. Reh, P. Bühler, M. Hofmann & V. Moser (Hrsg.): Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1980. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 191–208.
Hoffmann, T. (2021): Hilfsschulpädagogik im Krieg: Übungsschulen für Kopfschussverletzte 1914 bis 1918. In: O. Musenberg, R. Koßmann, M. Ruhlandt, K. Schmidt & S. Uslu (Hrsg.): Historische Bildung inklusiv: Zur Rekonstruktion, Vermittlung und Aneignung vielfältiger Vergangenheiten. Bielefeld: transcript, 37–61.
Vortrag: "Die Ordnung der Kriegspädagogik. Sonderpädagogische Rehabilitation und Übungsbehandlung hirnverletzter Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg", im Rahmen der DGfE-Zwischentagung "Historiographie der Sonderpädagogik" der Sektion Historische Bildungsforschung am 17. und 18. November 2022 an der Universität Zürich.
Vortrag: "Übungsschulen für 'Gehirnkrüppel' (1914–1918): Zur Diagnose und Behandlung der Wortstummheit im Ersten Weltkrieg zwischen Hysterie und Aphasie", im Rahmen der Tagung: „The Noise of Medicine: Transdisziplinäre Perspektiven auf akustische Phänomene in der Medizin“ (Online-Tagung), vom 10. bis 12. Juni 2021 an der Universität Innsbruck.
Vortrag und Symposium: "Sonderpädagogische Historiographie zwischen Einheit und Differenz" (mit Prof. Dr. Vera Moser, HU Berlin, Vertr.-Prof. Dr. Andreas Kuhn, Universität Landau; Diskutant: Prof. Dr. Sebastian Barsch, Universität zu Kiel), im Rahmen der Tagung "vergangenheiten – vielfältig – vergegenwärtigen: Geschichte und Historisches Lernen inklusiv", vom 5. bis 7. März 2018 an der Universität Hildesheim.
Vortrag: "Übungsschulen für Kopfschussverletzte – Medizinalisierung und Interdisziplinarität der Hilfsschulpädagogik im Ersten Weltkrieg", im Rahmen des internationalen Workshops "Schülerauslese, schulische Beurteilung und Schülertests 1880–1940" (Diskutant: Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth, HU Berlin), am 05. & 06. Oktober 2017 an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin.