Foto: Blick in den Innenhof eines Wohnheims für Erwachsene mit geistiger Behinderung. Die tiefen Spurrillen auf dem Rasen stammen von den täglichen „Hofgängen“ eines dort wohnenden autistischen Mannes, für den es – teils wegen Personalknappheit, teils wegen mangelnder pädagogischer Phantasie – zu diesem Zeitpunkt nur wenige alternative Beschäftigungsangebote auf der Wohngruppe gab (eigene Aufnahme, Reutlingen 2003).
Projektleitung: Prof. Dr. Ursula Stinkes, Prof. Dr. Hans Weiß
Wiss. Mitarbeiter: Dipl.-Soz. Thomas Hoffmann
Das Forschungsprojekt beleuchtet innerhalb der Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern mit schweren Behinderungen die Interaktionen zwischen Betroffenen und Betreuern/innen im Bereich des Wohnens und hier insbesondere das Spannungsfeld „Pflegesituationen“ als zentrales Merkmal ihrer Lebenswirklichkeit. Dieses Spannungsfeld ergibt sich einerseits aus dem Bedarf an Pflege in Abhängigkeit von den individuellen, schädigungsspezifischen Einschränkungen und ihren Auswirkungen in körpernahen Bereichen wie Ernährung, Hygiene und Mobilität sowie den subjektiven Bedürfnissen der zu pflegenden Person; andererseits aus den ob-jektiven (Rahmen-)Bedingungen, in denen Pflegesituationen gestaltet werden können (insbesondere Vorgaben von Zeit- und Personalressourcen). Diese befinden sich durch die Neuregelung der Pflegeversicherung und die Weiterentwicklung der Qualität der Betreuung in Wohneinrichtungen für Menschen mit (schweren) Behinderungen in einem Veränderungsprozess, der ebenfalls durch Spannungen gekennzeichnet ist: der Verbesserung der Lebensqualität einerseits und der Kostendämpfung andererseits. Im Zuge dieser Neuregelung wird die kritisch zu beurteilende Möglichkeit geschaffen, pädagogische Betreuung in primär oder ausschließlich pflegerische Betreuung zu modifizieren, was nicht nur konzeptionelle Veränderungen der Heime nach sich ziehen wird, sondern die Interaktionsbeziehungen unter Umständen nachhaltig verändern dürfte.
Vor dem Hintergrund dieser spannungsgeladenen Entwicklungen hat das Forschungsprojekt zwei Schwerpunkte:
Zum einen sollen durch quantitative Erhebungsverfahren Rahmenbedingungen der Lebenssituation von Erwachsenen mit schwerer Behinderung – beispielhaft aufgezeigt an zwei Großeinrichtungen im Rahmen Reutlingen – herausgearbeitet werden (binnenstrukturelle Bedingungen, Zielsetzungen der Wohnheime, Problemfel-der der Zuweisung, Analyse der Zeit-Raum-Struktur etc.).
Zum anderen sollen durch kasuistische Analysen auf der Basis phänomenologischer Beschreibungen der Interaktionen zwischen Betroffenen und Betreuern/innen und durch qualitative Interviews mit den Betreuern/innen über diese Interaktionen genauere Informationen über Umfang und qualitative Merkmale der Beziehungsgestaltung gewonnen werden.
Im Zentrum der Zielstellung stehen die Beschreibung und Analyse der Interaktionen im Rahmen von Großinstitutionen. Sofern möglich, werden Studierende über einen angemessenen Zeitraum (Mindestdauer: 6 Monate) aktiv in das Projekt einbezogen (Eins-zu-Eins-Interaktionen unter Praxisbegleitung).
Stinkes, U. (2024). Antwortverhältnisse. Anni N. und das Nichtzuhausesein in der Welt. Heidelberg: Winter („Edition S“).
Hoffmann, T. (2013). Wille und Entwicklung: Problemfelder – Konzepte – Pädagogisch-psychologische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS-Verlag (Kap. 4.3).
Hoffmann, T, Stinkes, U. & Weiß, H. (2002). Aspekte der Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern mit schweren Behinderungen in Wohneinrichtungen. Geistige Behinderung, 42. Jg. (2002), H. 2, 157–158. (PDF)